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FLUX – Zugzwang

Leseprobe

FLUX – Zugzwang ist trotz seiner Zusatzinhalte, die u.A. per AR abrufbar sind, ein normaler Fantasy-Roman.
Es folgt die Leseprobe zu diesem.

Kapitel 1: Lyderia im Imperium des Westens – Rhiel

Fünf Tage zuvor …

Gewitterblitze offenbarten das Antlitz eines jungen Mannes, der durch die überfluteten Gassen Lyderias stapfte. Der Regen perlte an seiner Kapuze ab, lief auf seinen Umhang, der weniger Ihn, mehr seine Tasche schützen sollte.

Fahler Laternenschein wies ihm den Weg, ehe er durchgefroren an seinem Ziel ankam, gegen eine Holztür schlug und abwartete.
Ein kurzes Murren, sie öffnete sich. Er huschte hindurch, schloss sie schlagartig – schnaufte erlöst und warf den Mantel in eine Ecke, wobei ihm das lange, schwarze Haar ins Gesicht fiel und die tiefblauen Augen kurz verdeckte
.

Endlich zuhause. Die Lederstiefel hinterließen wässere Abdrücke im altbekannten Labyrinth. Er lief vorbei an Apparaturen, Bauteilen, verschiedenstem Krempel, mehreren Gebirgen aus Stahl und Eisen, Behältnissen und Kristall, die abstrus durcheinander, schier endlos getürmt das Heim des bekanntesten Alchemisten des westlichen Imperiums auszeichneten.

Acalon saß an seinem von Werkzeug und Papierbergen völlig überschwemmten Schreibtisch und zeichnete an einem Bauplan.
»Schon wieder Schrammen und Brandspuren?« Der Junge, zeigte auf den ramponierten Kittel des Alchemisten.
»Häh?« Der Alte grunzte, war verwirrt. »Was meinst du, Lycon?« Eindringlicher Blick, ein kurzer Moment des Schweigens, dann Erleuchtung. »Achso.« Er wunk ab. »Das Übliche.« Acalon beachtete ihn nicht weiter, versank in seiner Arbeit – bis er sich erinnerte, realisierte, dass er Lycon zur Abholung eines Päckchens entsandt hatte.

»Ach ja.« Der Alte grinste, klappte die goldene Brille mit den dutzenden voreinander platzierten Linsen hoch und sah den Jungen neugierig an. »Hast du das Syncanit?« Lycon öffnete die Tasche.
»Zusammen mit einem Brief von Soric.« Acalon runzelte die Stirn.
»Was will er dieses Mal?« Gespannt nahm er den Brief entgegen, überflog ihn und brach in lautes Gelächter aus.
»Soric, der Irre, will eine neue Belagerungswaffe, mit der er die ‚Grenzen der Eisernen Front‘, wie er maßlos geschwollen betont, brechen kann.« Der zynische Ton war klarer als die Lycon bevorstehende Erkältung. »Waghalsiges Vorhaben.« Acalons Worte, schlagartig nüchtern.

»Kennen wir den Zeron denn anders?« Acalon hielt inne, schlug den Brief auf den Schreibtisch, stand auf, knöpfte den zerzausten Kittel zu und nahm – nur ein wenig übertrieben – eine Denkerpose ein.
»Die Frage ist«, er seufzte, »wollen wir es anders?« Lycon verkniff sich das Lachen, die Inszenierung war altbekannt, doch legendär. »Natürlich könnten wir Avadur auch einfach weiter in Schach halten, doch diese Fanatiker setzen uns unter Druck, provozieren endgültige Maßnahmen.«
»Das Leiden des ressourcenarmen, bedürftigen Südens.«

»Ja natürlich!« Acalon nickte, bejahte mehrfach, wandte sich um und betrachtete den Brief erneut, um vorzulesen. »Pass auf! ‚Zur Beendigung der Tyrannei durch Avadur und dessen Regime benötigt das Imperium eure Hilfe.‘ So förmlich! Wir kennen uns bald dreißig Jahre!« Lycon grinste, Acalon fuhr fort. »Eine Äther-Artillerie, die dem Feind mit ungeheurer Kraft, Resistenz und Mobilität aufwartet – mit dieser, welche die Konstruktionen Avadurs übertrifft, haben wir nicht nur eine Chance, sondern vor allem auch die Sicherheit, bald das Ende des Krieges herbeizuführen.‘« Er grunzte vor Lachen, verschluckte sich fast dabei. »Was für eine Propagandaschrift. Der Krieg gegen diese elendigen Fanatiker ist doch immer fast gewonnen. Und das seit bald wie vielen Jahren?« Lycons Einsatz.
»Siebzehn.« Acalon nickte, grunzte erneut.
»Ich hab schon aufgehört zu zählen.« Der Alte fasste sich wieder, war schlagartig konzentriert, schien gefesselt von dem Dokument. »Ich sehe gerade sein Konzept – genial! Die Idee kam mir bereits vor Wochen.« Kopfschütteln bei Lycon – die Ahnung wurde bestätigt.

Daran tüftelt der Alte also die ganze Zeit. Die Erprobungsvorfreude war dem Alchemisten anzusehen. Garantiert hat er mich nur deswegen in dieses Mistwetter hinausgesandt. Auf den Monolog folgte Neugier.
»Wann können wir sie testen?«
»Die Tasche!« Mit einer hastigen Handbewegung forderte Acalon das Gepäckstück. Kaum zugeworfen durchsuchte er es, beinah gierig, definitiv euphorisch, zog nach ein paar Sekunden einen melonengroßen, kantigen Arkanit-Kristall aus dieser.

Rötliches glühen, eingeschlossen in einen Brillantschliff. Höchste Qualität, wie sie ausschließlich der Orden des Nordens zu liefern vermochte.
»Dank diesem Exemplar jederzeit. Aber zuvor…« Er verlor den Faden, bemerkte einen Aspekt des Bauplans und verlor sich in der Überarbeitung von diesem. Dass Lycon den Raum verließ bemerkte er nicht.

Der Junge stieg die hölzerne Treppe in den Dachstuhl hinauf und betrat sein einer Bibliothek gleichendes Zimmer. Über den roten Teppichen, vorbei an Bücherstapeln und Notizen schritt er auf seinen Ohrensessel zu und ließ sich in diesen fallen. Streichholz, kratzen; er entzündete eine Kerze, tauschte diese mit dem Buch auf dem Tisch und begann zu lesen, widmete sich erneut den Lehren der erweiterten Militärstrategie des westlichen Imperiums. Bald vorbei. Er arbeitete sich durch die zähe Lektüre, erinnerte sich der Worte Acalons. Wenn du in der heutigen Zeiten etwas erreichen willst, musst du dich auch damit auseinandersetzen. Anders kommst du nicht an den Hof des Zeron von Rhiel. Mein Wort allein reicht nicht, wenn du nichts leisten kannst!

Recht hatte er, die Disziplin triumphierte. Lycon versank in der Schrift, sah nach einer Weile auf, legte das Buch in seinen Schoß. Es ist mehr als bloße Disziplin, die mich leiten. Lycon reflektierte, analysierte – bezog sein Wissen aus anderen Quellen ein und verfasste einen inneren Essay:

Die Bedürfnisse einer Gesellschaft bestimmen maßgeblich ihr Bild. Rhiel steht für Tradition, Stärke und Unabhängigkeit. Die letzteren beiden Aspekte begründen unseren Fokus auf Militär und Infrastruktur. Denn nur wer gut gerüstet schnell und diszipliniert agieren kann ist im Ernstfall wehr- und handlungsfähig. Diese Maxime prägt das Denken des herrschenden Hauses Flasyra schon seit Anbeginn des westlichen Imperiums. Unter dem Begründer dieser Dynastie erkämpften wir unsere Freiheit und wahren sie bis heute, vereint unter dem schwarzen Phönix-Banner des Zeron von Rhiel.

Zur Historie von Rhiel

Jedes Imperium hat eine Geschichte. Erfahre hier, wie Rhiel gegründet wurde, seine Unabhängigkeit erlangte und welche Werte es fortan prägen – in drei Kurzgeschichten.

Doch nur durch Verteidigung allein werden wir dem Fanatismus des Nordens nie ein Ende setzen. Wir müssen die Wurzel allen Übels anpacken: Avadur vom Einfluss des Ordens befreien, ehe dieser in seinem transzendentem Wahn eine neue Despoten-Riege wie einst die Aszendenten hervorbringt: Jene falschen Götter, die uns die Macht des Arkanit vorenthielten, seine Nutzung perfektionierten und aus ihrer Dekadenz heraus alle Völker dieser Welt versklavten.

Soric ist von der Notwendigkeit von Verbündeten für dieses Vorhaben überzeugt und stellte sich gegen die Tradition der außenpolitischen Neutralität, als er begann mit der Hegemonie des Ostens gemeinsame Sache zu machen: Die Metropole Tycos, beherrscht vom Konzern-Konglomerat, beutet seit jeher ferne Provinzen und Kolonien aus, um den obszönen Reichtum in der Heimat zu sichern.

Es ist eine Kleptokratie, die unter dem Deckmantel von Fortschritt und Wohlstand drakonisch diktatorische Maßnahmen der Ordnung rechtfertigt und oftmals von Unternehmungen wie Ausbeutung und Krieg profitiert – und folglich ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Zustände hat.

Ihre Werte stehen diametral den Unseren entgegen und doch einigte man sich auf der Basis einer gemeinsamen Ambition: Die Macht des Nordens brechen, um die eigene Lebensweise zu sichern. Die Realität jedoch zeigt, dass die Macht des Ordens nur begrenzt wird – bis zu dem Grad, wo sie einigen wenigen mehr nützt als schadet. Lycon grinste, ertappte sich selbst. Denn der Kristall, den er Acalon geliefert hatte, war vom einem Lieferanten des Ordens. Keiner ist unschuldig. Alles ist verwoben.

Er setzte seinen inneren Essay fort: Der gemeinsame Krieg von Rhiel und Tycos gegen Avadur nimmt kein Ende. Stattdessen löst er das Problem des begrenzten Wachstums durch ständige Zerstörungs- und Wiederaufbaumaßnahmen. Er erzwingt gewalttätig den Bruch einst unbeweglicher Strukturen in Politik und Gesellschaft und schafft so dem Konflikt zuträgliche Innovationen. Das System wird immer effizienter und erhält sich selbst. Lycon erkannte zum einen die Brillanz, sah auf der anderen Seite jedoch auch ein, dass es falsch war sowas aufrecht zu erhalten oder anderweitig zu unterstützen: Diese Kriegswirtschaft ist eine mit Blut geölte Maschine, die der Ressourcen-Armut und einer Bedrohungssituation entspringt, unsere Gesellschaft militarisiert, uns an die Hegemonie bindet und vornehmlich den tycanischen Konzernen und deren Oberkommando nützt. Diese Politik ist ihr ertragreichstes Exportprodukt und ein perfider Versuch uns wieder einzugliedern, nachdem wir uns vor Jahrhunderten die Freiheit von der damaligen Hegemonie des Ostens erkämpft hatten.

Zur Historie von Tycos

Die Handlungen der Hegemonie des Ostens hat letztlich Rhiel hervorgebracht. Erfahre in drei Kurzgeschichten alles über die Geschichte und Ideologie von Tycos.

Acalon hatte Lycon im traditionellen Geiste Rhiels wie seinen eigenen Sohn erzogen und viel über die Geschichte des Imperiums gelehrt. Entsprechend formulierte Lycon seinen Standpunkt: Aus meiner Sicht wahrt das Zweckbündnis mit Tycos weder die Tradition Rhiels, noch unseren Anspruch auf wahre Unabhängigkeit. Unter Soric steht lediglich die Stärke des Imperiums im Fokus und damit seine militärische Macht. Er hat sich zum Versall der tycanischen Hegemonie gemacht. Ob aus Zwang oder Eigeninteresse weiss ich nicht, doch genau das gilt es herauszufinden!

Zielstrebig las er weiter, dachte dabei aber parallel an die Folgen der Politik des Zeron, was ihn anwiderte und letztlich weiter motivierte: Wie viele Familien haben Mitglieder wegen dieser Kriegsökonomie verloren, die vom ständigen Zerstören und Wiederaufbauen profitiert? Wie vielen wurde ein freies und gutes Leben in Wohlstand verwehrt, weil einige wenige ihre Interessen, über die der Allgemeinheit stellen?

Er erinnerte sich in diesem Moment auch seiner Eltern, beides hochdekorierte Offiziere, die ihn einst bei Acalon ließen, mit einer Umarmung und guten Worten verabschiedeten und selbst in den Krieg zogen und nie wiederkehrten.
Lycon ballte eine Faust, kniff die Zähne zusammen, beherrschte seine Emotionen und fasste sich wieder. Solange ich nicht in einer Machtposition bin, um all dies aufzuklären muss ich das Spiel mitspielen. Mich anpassen. Die Agenda von Soric mittragen, um meiner eine Chance auf ihre Umsetzung zu bringen.

Dies war seine These. Lycon antizipierte die Zukunft und bereitete sich bestmöglich auf seine Rolle in dieser vor. Es war Ambition, die ihn trieb. Der Wunsch nach der Macht etwas zu verändern. Er blickte erneut in die Geschichte und fasste seine Gedanken nochmal zusammen: Tycos war schon immer für seine moralische Inkonsistenz bekannt. Sie nutzen die Not der Völker, situieren sich gut, lassen Rhiel für sich kämpfen und erpressen im Verbund den Ausbau der Kriegsökonomie; machen uns von ihr abhängig, wie sie es bereits sind. Und akzeptieren tun wir dies nur, weil die Diktatur des Nordens nach dem Süden strebt, in ihrem transzendenten Wahn ihre Macht, ihre Ressourcen missbraucht und den südlichen Lebensstil nicht toleriert – eine für Tycos willkommene Situation, sofern Avadur in Schach gehalten bleibt.

Zur Historie von Avadur

Der Nexus des Nordens ist der Grund für den widerwilligen Zusammenschluss von Rhiel und Tycos im Süd-Bündnis. Erfahre mehr in zwei Kurzgeschichten.

Es ist kein Wunder, dass diese Materialschlacht seit siebzehn Jahren tobt. Ein Ende ist erst im Interesse der Hegemonie, wenn die Kosten der Kriegswirtschaft ihren Nutzen nicht mehr rechtfertigen oder gar die Lebensgrundlage der tycanischen Oligarchie höchst selbst bedroht. Diese Gedanken weckten Zielstrebigkeit. Den ersten Schritt auf seinem Weg hatte ihn die Ausbildung durch Acalon bereitet. Ich werde dem Rat des Hauses Flasyra beitreten und das Ende des Krieges herbeiführen. Avadur muss besiegt, die Gier der Konzerne eingedämmt, das Volk vor der Kriegsökonomie bewahrt werden.

Er schöpfte neue Kraft, wandte sich seinem Buch zu, kam schneller durch, als erwartet und genoss abschließend noch eine andere Lektüre. Betitelt als Diskurs über die Relevanz der Unabhängigkeit der tycanischen Frontprovinzen schien sie ihm ein probates Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele.

© Timon Lorenz Thöne

Kapitel 2

Drei Tage zuvor …

Ohrenbetäubender Knall, bebende Erde, schlagartiges Erwachen. Mit seinen Büchern fiel Lycon aus dem Sessel, sprang sogleich mit weit aufgerissenen Augen auf und sah sich um. Sein Herzrasen nahm ab, als er realisierte, dass er Zuhause war – als er die Geschehnisse begriff.
Acalon. Er stand auf, huschte zum Fenster und erspähte den Alten, wie vermutet, mit einer abstrakten, goldenen Konstruktion, in deren Basis der rote Kristall verbaut war. Mehrere symmetrisch aufeinander gerichtete Messingschienen, deren Innenseiten verspiegelt waren, formten den von Linsen gespickten Lauf, in dem die Energien des Kristalls gebündelt wurden. Leicht über dem Boden schwebend, dumpf surrend und glühend, ja nahezu majestätisch erschien die mit der Macht des Arkanit betriebene Konstruktion, die soeben abgefeuert wurde. Fasziniert betrachtete er den gleißenden Kometen, der sich unaufhaltsam dem Horizont und dessen Gebirgshang näherte – einschlug, einen Lichtblitz entfesselte. Erneutes Beben, dumpfer Bass zog über das Land, zerrüttete es, bescherte dem angrenzenden See ein paar neue Inseln. Denn ganze Felsen brachen aus dem Berg, verdrängten Wasser, ließen Wellen das Ufer überfluteten. Lauthals lachte der Alchemist, der Pyromane in ihm feierte, genoss das grelle Licht auf das Rauchschwaden folgten, die sich dann verzogen und einen Krater offenbarten. Seidene, beinah schwerelose Fäden, die flüssig und gläsern, rötlich glühend, wie flüssiger Stickstoff dampften, breiteten sich in elliptischen Mustern in diesem aus. Dabei fielen sie, wandten sich um, tanzten zu Boden, angetrieben vom Sog der Schwerkraft. Purer Flux, auch Äther genannt – immer wieder bescherte dieser Anblick Gänsehaut.  Das der kleine Berg mit seinem Hang förmlich halbiert worden war schien nebensächlich.

Geschwind eilte Lycon hinunter, ließ einen Apfel aus der chemielaborähnlichen Küche mitgehen und stürmte zur Tür hinaus. Er blieb stehen, als verängstigter Anwohner ihn mit ihren fragenden Blicken konfrontierten. Acalon hat sie nicht gewarnt, was auch sonst. Lycon gab Entwarnung. Getuschel erklang, Kopfschütteln und Fluchen dominierte die Szene, die der Junge leicht verlegen, doch zügig verließ. Ob sie sich je daran gewöhnen werden? Er grinste, schüttelte den Kopf und biss in den Apfel, dachte über Acalons Tests von Kriegswaffen in der Nachbarschaft nach. Natürlich wurde ich unsanft geweckt, doch wo wenn nicht im unbekannten Lyderia lassen sich hauptstadtnah und zugleich heimlich neue Systeme testen? Er kannte keine Alternative, hielt es auch für unsinnig weiter darüber nachzudenken. Denn letztlich waren es nicht die Tests, die den Terror verantworteten, stattdessen die Sprunghaftigkeit des Alchemisten und dessen Angewohnheit niemanden vorher zu warnen. Nicht weiter darüber nachdenkend spazierte Lycon ums Haus, biss erneut in den Apfel und wünschte Acalon einen ruhigen, friedlichen und guten Morgen. Ironie im Endstadium, der Alte lachte.
»Sag, sind wir neuerdings an der Front? Nicht, dass ich unseren Nachbarn eine falsche Auskunft gegeben habe.« Acalon grinste.
»Selbst wenn die Schergen Avadurs hier wären würde das Ding ihnen den Garaus machen.« Er ist also zufrieden. Sehr gut. »Und nun tu mir bitte einen Gefallen.«  Lycon hob die Augenbraue, hatte eine Ahnung.
»Geh ins Rathaus und nutze den arkanen Kommunikator. Lass den Zeron wissen, dass der geforderte Prototyp fertiggestellt ist. Und schick ihm auch die Pläne, sodass die Serienproduktion beginnen kann.« Lycons Ahnung bestätigte sich, er kannte Acalon einfach zu gut. Dass er ihm nicht umgehend antwortete entlockte dem Alten den Satz, den er hören wollte. »Ist ja gut, danach kannst du die andere Hälfte des Berges bearbeiten. Aber erst geht’s ins Rathaus!« Damit gab er sich zufrieden. Auf seinem Weg trug er die Pläne unter dem Arm, knabberte an dem Apfel und kam nach ein paar Fachwerkhäusern und vielen Bewohnern, die er grüßte als sei nichts gewesen, auf den Dorfplatz. Diverse Marktstände umringten den zentralen Springbrunnen, hinter dem sein Ziel lag. Es war eine kleine Villa, die, umringt von einem ungepflegten Garten, die Schaltzentrale der (irrelevanten und quasi nicht vorhandenen) Politik Lyderias bildete. Lycon ging hinein, fand sich im großen Empfangssaal wieder, dessen zentraler Pfad mit einem blauen, teils vergoldeten Teppich ausgelegt war. Rundherum gefüllte Bücherregale, zwischen ihnen von Wasserranken bedeckte Säulen, deren Pflanzen die gesamte Decke vereinnahmten. Auf seinem Weg umwanderte er Kisten, die sich ähnlich türmten wie er es aus der Werkstatt kannte. Dennoch war das Ambiente weit ansehnlicher, sofern die Erschütterungen der Apparaturen Acalons das Gebäude nicht bald zum Einsturz brachten.

Ende des Teppichs, er stieg die Wendeltreppe hinauf, umrundete dabei einen blauen Kristall, dessen Funktion in der Versorgung des ganzen Dorfes bestand. Ein dumpfes Surren war an dem Mineral auszumachen, genauso die kleinen blauen Ätherstreifen, die sich hin und wieder von der Materie des Objektes abhoben. Während Lycon nach oben ging, sah er hinauf, erkannte, dass die Kristallspitze, die durch die Decke ragte, von einer blütenartigen Klappe abgedeckt war.
»Der Handlanger des Terroristen!« Die Worte des Bürgermeisters, die Lycon vernahm, als er das erste Stockwerk erreicht hatte. »Könnt ihr uns unschuldige und hilflose Bewohner nicht ein einziges Mal vorher informieren?« Die Verzweiflung hätte nicht gespielter klingen können, in Wahrheit hasste er Acalon schlichtweg, sah sich durch ihn als direkten Produzenten für den Zeron in seiner Funktion ausgehebelt.
»Das ist nicht gut für die Verdauung. Nein, ganz und gar nicht! Schlechter Stil.« Der Mann, Ende fünfzig, richtete sich die Brille, während er mit der anderen Hand den Speckbauch massierte. Lycon verdrehte die Augen, war durch sein assoziatives, eidetisches Gedächtnis zur Rekapitulation der Informationen geradezu gezwungen. Weinerlicher, sozial unfähiger Bürokrat. Nervig und doch aus einer einflussreichen Familie stammend, sodass man ihm den Posten nicht verwehren konnte – entsprechend besetzte Soric mit ihm den unbedeutendsten, da Lyderia sich quasi selbst verwaltet. Sein übertriebener Ordnungssinn, dem er offensichtlich nicht nachzukommen vermag, wie die Villa und ebenso das Auftreten offenbaren, ist zumindest in der Theorie nicht die schlechteste Eigenschaft, um Acalon davon abzuhalten, das Dorf abzufackeln. Darüber hinaus fiel Lycon nichts weiter ein – ein klare Auszeichnung der Relevanz seines Gegenüber.
»Ich habe Hunger! Also bringen wir es schnell hinter uns. Lasst mich raten, ihr wollt dem Zeron Soric berichten?« Offensichtlich hatte das Bedürfnis nach Frühstück den Ärger nun doch besiegt. Lycon klärte die Formalitäten. Zeitgleich begann der Kristall im Treppenhaus zu erglühen. Die Blütenklappe öffnete sich, der Hologrammkommunikator wurde kalibriert und begann, eine holographische Verbindung nach Rhiel herzustellen. Der schwacher Laser schoss über die Gebirge und Wälder, Täler und Felder hinweg, in Richtung des Regierungssitz – Verbindungsaufbau.

Erfolg – das Hologramm eines älteren und doch kräftigen Mannes in edelster Robe erschien.
»Seid gegrüßt, eure Exzellenz«, begann der Bürgermeister. »Der junge Lycon, Lehrling des Alchemisten Acalon, möchte Euch über die Fortschritte Eurer Anforderung unterrichten.« Sorics Blick wandte sich Lycon zu.
»Acalon hatte die Idee bereits selbst ins Auge gefasst, den Prototypen haben wir heute Morgen erfolgreich getestet. Hier sind die Pläne.« Die ernste Miene des Zeron verzog sich kein bisschen, stattdessen schien es, als hätte er nichts anderes erwartet. Die Pläne wurden vom Flux abgetastet, auf ein Papier in der Hauptstadt eingebrannt.
»Wie ist der Test verlaufen? « Der Bürgermeister schluckte.
»Wir …«, begann der Junge zögerlich, »haben einen Berg halbiert.« Stille. Lediglich das leise Flimmern des Kristalls war zu hören, als Soric Lycon eingehend musterte.
»Den halben Berg?« Lycon nickte. »Können Sie das bestätigen?« Er sprach den Bürgermeister an, der den Erfolg der Störenfriede nur widerwillig zugab. »Danke. Nun lassen Sie uns allein.« Voller Verachtung verneigte sich der Bürgermeister, trat zurück und verließ eilig den Saal, schwankte kurz, als ein dumpfer, entfernter Knall ihn aufschrecken und über Acalon fluchen ließ.
»Wenn er sich so sträubt einen Erfolg seines Bezirks zu kommunizieren muss ihn der Test sehr mitgenommen haben.«
»Ihr wisst wie Acalon ist.« Verlegenheit schwang diesen Worten mit.
»Sehr gut sogar. Und er hat mir auch viel von dir erzählt.« Lycon horchte auf.  »Du seist außerordentlich belesen, unendlich fleißig und verfügst doch über keinerlei Sensitivität für den Flux. Warum?« Lycon erkannte den Test und blieb konzentriert.
»Die Sensitivität für den Flux ist eine Frage der genetischen Veranlagung, sowie der Konditionierung. Gemäß meiner Talente habe ich meine Ausbildung gewählt und sinnvoll priorisiert.«
»Also hast du ein festgeschriebenes Grundlagentraining ausgespart?«
»Kosten und Nutzen stehen hier in keinem vertretbarem Verhältnis.« Der Zeron nickte, projizierte dann eine Karte des Kontinents in den Raum, visualisierte auf dieser Frontlinien und Versorgungsrouten.
»Und wie bewertest du die im Südbündnis festgeschriebene Beistandspflicht im Krieg gegen Avadur?« Nun grinste Lycon und begann dem Zeron die These seines inneren Essay zu erläutern, zog dazu eine Reihe an Statistiken und Studien heran, um seine Perspektive zu untermauern. Er legte fundiert dar, wie der Status Quo Tycos auf Dauer nützt und Rhiel schadet und warum die aktuelle Situation den Krieg gegen Avadur niemals zu einer Entscheidung bringen wird. Der Zeron hörte zu, dachte nach, ließ den Jungen ausreden und fasste einen Entschluss. »Meine Berater waren bisher noch nie in der Lage ihre Thesen derart detailliert zu untermauen. Zumindest nicht im allein. Jedem Mitglied im hohen Rat des westlichen Imperiums steht ein ganzer Stab für seine Arbeiten zur Verfügung. Du dagegen leistest Vergleichbares ohne derartiges.« Lycon fühlte sich geehrt, lauschte gebannt und gespannt, die Berufung an den Hof zum weiteren Ausbau seiner Fähigkeiten für einen Ratsposten erwartend. »Ein derart funktionaler Verstand wird dem Rat gut tun. Daher berufe ich dich in die Hauptstadt. Das weitere Verfahren besprechen wir dort.« Für einen Moment verlor er die Konzentration. Tatsächlich entwickelte sich alles so wie er es vorausgeahnt hatte. Dankbar nahm Lycon das Angebot an und beendete das Gespräch, ließ den griesgrämigen Bürgermeister unbeachtet zurück und rannte zur Werkstatt, wo er Acalon nach wie vor die ferne Landschaft zerstörend vorfand. Dass er selbiges vorhatte verblasste im Angesicht der Euphorie, mit der er Acalon über die Neuigkeiten unterrichtete.
»Es ist wohl soweit.« Der Alte beglückwünschte seinen Zögling, klopfte ihm auf die Schulter.  »Los, pack deine Sachen. Du solltest gleich aufbrechen.« Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Geschwind stürmte er in seine Bibliothek, legte Kleider und Schriftrollen zusammen und verstaute diese in seiner Umhängetasche, ehe er zu den Stallungen des Dorfes ging, wo Acalon auf ihn wartete.
»Du kommst mit?« Der Alte lächelte.
»Ich denke nicht, dass du die Geduld haben wirst mit mir und dem Prototypen in die Hauptstadt zu reisen, oder?« Gewiss nicht. Karrenfahrten sind furchtbar. Seine Abneigung eingestehend stimmte er zu und forderte ein eigenes Pferd an, um voraus zu reiten. Der Stalljunge führte ihn einen kräftigen Schimmel, dessen Augen blau aufblitzten.
»Cyrolevel?« Lycon befestigte seine Tasche auf dem Rücken des Tiers.
»Knapp bei Drei.« Er nickte. Kavalleriestandard. Durch die Anreicherung des Kraftfutters mit Cyro, verflüssigtem Arkanit, wurde die Leistungsfähigkeit dieses Tiers nahezu verdreifacht. »Damit seid ihr zur Mittagszeit in der Hauptstadt.« Lycon sattelte auf, ritt aus dem Stall und erblickte Acalon, der sich gerade einen Karren spannen ließ. Dabei war der Alte in eine hitzige (und absolut sinnlose) Diskussion mit dem Stallmeister vertieft, nutzte dann aber einen freien Moment, um Lycon zu signalisieren, dass er sich nicht aufhalten lassen solle. Entsprechend donnerte Lycon durch die Straßen der Kleinstadt, galoppierte den Bergpfad hinauf und entschwand in den Herbstwald.

Kapitel 3

Mittag

Rhiel, die Hauptstadt des westlichen Imperiums, getaucht in das Orange der Mittagssonne. Von einem entfernten Hügel aus betrachtete Lycon das Panorama, dessen Himmel von den Kreisen eines Adlers durchzogen wurde. Für einen Moment folgte er diesem, registrierte Details, identifizierte Strukturen. Drei Ringe, die den Rücken der Metropole, eine aus dem Gebirge heraus gebaute, romanische Kathedrale, schützen. Es war die Iridianfestung, die er betrachtete. Das Machtzentrum des Imperiums. In dutzenden Ebenen stieg es zur Bergspitze auf, schloss schillernde Gärten, Geschütze und Felder ein und endete in einer goldenen, einem Phönix gleichenden Turmspitze. Am Boden Fachwerkhäuser, ebenfalls umschlossen von prunkvollen Mauern und Türmen, geschmückt mit Schwarzphönixbannern und Statuen, die einen unmissverständlichen Eindruck von Tradition, Stärke und Unabhängigkeit vermittelten.

Für einen Moment genoss Lycon diesen Anblick, ritt dann auf das gigantische Stahltor zu. Je näher er der Hauptstadt kam, desto überwältigender war sie. Mit unterschiedlich gebrochenen Platten waren die Wege gepflastert, die Hauptstraßen von atemberaubenden Ahornbaumalleen geziert, deren herbstlich orange schimmernde Blätter den Boden säumten. Immer wieder hatte Lycon von der seit Jahrhunderten allen Kräften trotzenden Stadt gelesen, in der Tradition und Kultur, besonders die Dichtung und Malerei, hohen Stellenwert besaßen. Trotzdem überraschte ihn die detailverliebte Architektur in Anbetracht des Stärkedogmas, der ständigen Kriegsbereitschaft, welche die Unabhängigkeit sichern soll.

Viel Fußvolk schlenderte durch die Gassen, berittene Boten stürmten durch die Alleen. Erst wirkte es chaotisch, doch begriff Lycon die großstädtische Betriebsamkeit schnell, passte sich an, kam so ohne Zwischenfälle zum Marktplatz. Stände, Händler, Tiere. Überall wurde gefeilscht. Das Ambiente glich einem Basar, dennoch lief alles sehr geordnet ab. Regelmäßig bemerkte er die Truppen der Stadtwache und registrierte ihre Ausrüstung, wobei ihm die Zeilen aus seinem kürzlich gelesenem Titel in den Sinn kamen. Leichte Plattenrüstung, lederverstärkt, für das ideale Verhältnis von Schutz und Mobilität. Dazu stets orange goldene Umhänge mit Hoheitszeichen. Die Bewaffnung umfasst Schwert und Fluxlanze. Letztere ist eine Kombination aus Klinge, Stichwaffe und Äthergewehr.
»Das meiste habe ich behalten.« Zügig zog er weiter, orientierte sich dabei an der alles überragenden Zitadelle, kam nach einer weiteren Alle zum mit Ornamenten bepflasterten Truppensammelplatz, der rund um den weitläufigen Garten des Regierungssitzes angelegt war. Eine Menge Zerer hatte sich dort versammelt, blockierten das Haupttor – sein Ziel. Neugierig ritt er zu ihnen, bemerkte, dass sie einen großen Kreis um zwei Personen bildeten. Zuerst fiel sein Blick auf die junge Frau in leichter Rüstung. Der Wind spielte mit ihrem Haar, während sie ihren Widersacher mit blau glimmernden Augen anblitzte. Hochwertige Stiefel, schwarzen Seide unter dem Lederbrustpanzer – Lycon schloss auf eine edle Herkunft, denn solche Utensilien waren von immensem Wert. Doch nicht nur dies machte sie außergewöhnlich. Viel auffälliger waren die bronzenen, silbern verzierten Metallhandschuhe, die zusätzlich beide Unterarme umhüllten, jedoch nicht zu einer Rüstung gehörten. Denn alles andere blieb stahlfrei. Lediglich die Schulter der Schwertarmseite umfasste etwas Metall, schirmte den Riemen eines kurzen Umhangs ab, der in das Flattern des Haars einstimmte. Kräftiger Windstoß, kurz erhaschte Lycon einen Blick auf den kristallbesetzen Gürtel – sah keine Waffe.

Ihr Gegenüber war ein Heerführer Rhiels, wie Lycon an dem Hoheitssymbol erkennen konnte. Die typische, mit Gold verzierte, Plattenrüstung, die in der Mittagssonne erstrahlte; der orange goldene, musterbestickte Umhang. Sein Gesicht schien freundlich, jedoch sah er konzentriert aus, zog sein Langschwert und richtete es auf das Mädchen.
»Auf ein Neues«, fragte das Mädchen herausfordernd.
»Oh ja«, entgegnete dieser motiviert, begab sich in Kampfhaltung, wobei er beide Hände an sein Schwert anlegte. »Und diesmal gewinne ich!« Das Mädchen musste schmunzeln.
»Nun gut, aber seid nachher nicht allzu enttäuscht.« Sie hob ihren rechten Arm, ließ die tiefblauen Augen erstrahlen, entfesselte einen Lichtblitz. Partikel um Partikel materialisierte sich die Dunkelstahlklinge: Glühende Gravuren, hektisch agierende Mechanik, eingeschlossen zwischen Klingen und Kristall – gehalten an einem Ledergriff. Lycon traute seinen Augen kaum, starrte wie gebannt auf das Schwert. Das kann nicht sein. Eine Reliktwaffe aus der Vorzeit, als das Volk der Zerer noch von den Scheingöttern, den Aszendenten, versklavt war. Sie gelten als verschollen!
»Viel Glück«, sagte sie spöttisch, ihre Klinge einhändig auf den Hauptmann richtend. Ein Grinsen zeichnete sich auf dessen Gesicht ab, ehe er geschossartig voranstürmte, mit einer Drehbewegung nach ihr schlug und verfehlte. Mühelos wich sie aus, entfesselte einen Lichtblitz, schoss in die Luft, über ihn hinweg, traf mit der flachen Schwertseite auf den Rücken. Unliebsam krachte der Hauptmann zu Boden, rollte sich ab, sprang gegen einen Wall und stieß sich von diesem, hinterließ Ätherstreifen in seinem Anflug auf das Mädchen, dass derweil stilvoll landete; plötzlich erstrahlte und kaum sichtbar auf den Hauptmann preschte. Metallischer Schlag, mit schier endloser Gewalt trafen die Waffen aufeinander, schienen durch den grellen Klang die Zeit zu stoppen – dann ein kaum überschaubares Gefecht. Sinfonie von aufeinanderschlagendem Metall, beschworen durch einen von Schlägen, sowie Kontern geprägten Kampf. Fehlerlos wurden beide immer schneller, die Ätherauren wuchsen an. Ausfallschritt, das Mädchen griff mit der gepanzerten Hand zu, bekam die Klinge ihres Widersachers zu fassen, lenkte sie in ihrer Bewegung ab und stieß mit dem Schwertgriff zu. Angestrengter Blick, erneut hatte es den Hauptmann zurückgeworfen. Er keuchte, kassierte unbeeindruckte Gesten seiner Gegnerin, die sanft über ihre Schwertscheide strich, mit unschuldigem Blick provozierte.
»Jetzt reichts«, murmelte er, begab sich erneut in Kampfstellung. Sie tat es ihm gleich. Ein Moment der Stille, Blicke wurden ausgetauscht. Die Menge starrte gebannt, allen voran Lycon. Es war ein orange schimmerndes Ahornblatt, das die elektrisierte Luft durchschnitt, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog und kurz vergessen ließ.

Knall, beide Auren flammten auf, drohten zu kollidieren. Er begab sich in die Luft, manövrierte sich in die Waagrechte um einen Aufschlagschwung zu vollführen – traf das Mädchen am gepanzerten Arm! Doch hielt sie die Klinge fest, katapultierte sich durch den Schwung nach oben, zog die von Ätherblitzen umringten Beine an. Das Bild manifestierte sich für den Bruchteil einer Sekunde, offenbarte einen siegessicheren Blick ihrerseits, ehe sie zu Boden schoss, den Hauptmann traf und niederschmetterte. Dumpfer Aufschlag, Staubwogen. Die Bühne lichtete sich. Gekrümmt steckte der Hauptmann in einem kleinen Krater, rührte sich nicht, während das Mädchen auf ihm hockte. Ätherblitze umringen sie, wurden schwächer, als sie den Kopf hob, sich aufrichtete und ihre Waffe zu Partikel zerfallen ließ.
»Ich sagte doch ich gewinne.« Grinsend stieg sie von ihm herunter, reichte dem Geschlagenem eine Hand und zog ihn hoch. »Vielleicht ein andern Mal.« Der Hauptmann hustete, ließ sich von zwei Wachen stützen.
»Mit eurer Erlaubnis werde ich mich nun empfehlen. Ich brauch´n Bier.«
»Gebt dem Geschlagenem einen Drink aus, er hats verdient.« Applaus der Menge, sie bejubelte beide Akteure.  Lycon blieb verblüfft stehen, bemerkte gar nicht, dass sich die Menge um ihn verflüchtigte, verarbeitete stattdessen die Geschehnisse. Wer ist sie?
»Hey, du bist Lycon, oder?« Plötzlich stand sie vor ihm, reichte ihre Hand, verwirrte Lycon.
»Woher kennt ihr meinen Namen?« Offensichtliche Überforderung, das letzte womit er gerechnet hatte war jetzt angesprochen zu werden – sie schien amüsiert.
»Ich bin Kara und soll dich empfangen.« Zögerlich schüttelte er ihre Hand, begrüßte sie und bemerkte, dass sie ihm ja schon sagte wie er heißt. »War das ein Duell?« Ein schnell gesponnener Gesprächsfaden, mit dem er versuchte, seine Überforderung zu kaschieren. Kara grinste, spielte mit, erzählte fröhlich drauf los.
»Ach, Hauptmann Therion und seine Truppe. Die sind meine Leibgarde und sollen mich beschützen. Überflüssig, wie du siehst. Sie begleiten mich, seit ich denken kann, haben mich auch das Kämpfen gelehrt und eines Tages dann forderte mich der Hauptmann heraus. Ich bezwang ihn knapp, damit hat er bis heute nicht abgeschlossen.« Sie pausierte, genoss die Verwirrung in Lycons Gesichtsausdruck, fuhr fort, machte kurzen Prozess. »Wir kämpfen wöchentlich, auf dich warten war langweilig, wir haben uns duelliert – Ende.« Sie lachte.
»Du prügelst dich also mit deiner Leibgarde, wenn dir langweilig wird?«, erwiderte Lycon.
»Warum auch nicht?«, entgegnete sie verdutzt, was Lycon einerseits belustigte, andererseits dazu brachte, einfach nicht weiter zu fragen. Die besten Duellanten des ehemaligen Imperiums. Kein Wunder, dass sie aus Rhiel kommen.
»Woher wusstest du, dass ich der bin, auf den du wartest?«
»Du sitzt auf einem Reisepferd und hast gestaunt wie ein Kind. Dein erstes Duell?«
»Das erste von dem ich nicht nur lese«, seufzte er.
»Die Leute kennen diese alte Fehde, da fällt das nun mal nicht auf.«
»Mag sein. Aber wie hast du mich trotz des Duells bemerken können, warst du nicht anderweitig beschäftigt?«
»In so einer Situation musst du immer alles im Auge behalten. Aber lass uns nun reingehen, du wirst erwartet.«

Kapitel 4

Audienz

Lycon folgte Kara durch das Tor, hinein in den weitläufigen, bunten Garten rund um den Palast. Es war, als würde er erneut aus Lyderia hinausziehen und durch den angrenzenden Wald schlendern. Fasziniert blickte Lycon umher, legte sein Augenmerk auf die Baumkronen und alles Jenseits von diesen. Wolken, durchschnitten vom höchsten Turm der Kathedrale, der durch die Sonne in Flammen getaucht wirkte. Ein Moment, der ihm das Verständnis für eine Redensart eröffnete. Die Sonne steht hoch, doch höher der Sitz des Zeron von Rhiel, dem Phönix aus der Asche. Besonders durch den Krieg gegen Avadur wurde jener Jahrhunderte alter Mythos neu belebt. Die Erzählungen Acalons kamen Lycon an dieser Stelle in den Sinn…

Soric rettete Rhiel, nachdem die Regierungsdelegation beim Anschlag auf den Hohen Rat des Imperiums vor siebzehn Jahren ausgelöscht wurde. Die Invasion Avadurs hat er abgewendet, sie zurückgedrängt zum Pass des Nordens – zur Eisernen Front. Er führte uns durch die Krise. Er brachte Ordnung ins Chaos. Er ist der Phönix aus der Asche und mit ihm ganz Rhiel. Kara bemerkte sein staunen, genauso, dass er sich in Gedanken verlor. Doch sagte sie nichts, ließ ihm diesen Moment. Nach einer Weile kamen sie am innersten Ring des Palastes an, bestiegen die sich vor Ihnen aufbauende Marmortreppe, deren Breite Lycon nicht abzuschätzen vermochte. Wahrscheinlich erstreckt sie sich über die gesamte Fläche vor dem Palast. Er sollte Recht behalten. Oben angekommen wandte er sich um, fand die Bestätigung seiner Vermutung und ließ seinen Blick über den goldenen Wald schweifen, weiter, über die Stadt bis hin zu den, von saftigen Gräsern gesäumten, Hügellanden am Horizont.
»Man sieht es nicht«, murmelte Lycon.
»Was meinst du?« Sie ging auf ihn zu.
»Die Stadt. Sie ist so friedlich. Das Umland so lebendig und rein.« Er hielt kurz inne. »Der Krieg ist so fern.«
»Und hoffentlich bald vorbei«, antwortete Kara, nun neben ihm stehend. Eine sanfte Windbrise untermalte die Szene, erfasste ihr Haar, ließ es für einen Moment flattern. Lycon betrachtete sie. Ihrem Antlitz wohnte der Hauch einer Melancholie inne, doch … 
»Das ist es, wofür dich mein Vater empfängt, oder?« Sie unterbrach seinen Gedankengang, ihre Blicke trafen sich.
»Mich und meinen Vater«, antwortete Lycon.
»Dann lass uns keine Zeit verlieren.« Sie wandte sich um, strich über seinen Arm und animierte Lycon so, ihr erneut zu folgen. So überquerten sie den von Wächterstatuen umringten, letzten Vorplatz, kamen an das sich eigens öffnende Silbertor und durchschritten es. Vor ihnen ein roter Teppich, der die mit weiten Fliesen ausgelegte, von weißen Säulen getragene Halle durchzog, deren Ende kaum abzusehen war.
»Wie weit ist es?«
»Wenn du läufst? Ewigkeiten.« Das machte ihn stutzig.
»Alternativen?« Sie grinste.
»Schon mal geflogen?« Sie vollzog einen Handschwung, die Bodenplatte erhob sich, sonderte dabei bläulich glimmenden Äther ab. Lycon erschrak. »Und los!« Die Flugscheibe schoss davon, Lycon verlor das Gleichgewicht, doch ergriff sie seinen Arm, gab ihm halt. »Ganz ruhig. Du wirst es überleben.« Beinah geräuschlos glitten sie über den Boden, ließen das Foyer hinter sich und erreichten das Innere des Berges. Zentral erhob sich ein blauer Kristall, größer als alle, die Lycon je gesehen hatte. Rundherum lagen die Wände des höchsten Turmes, dessen Seiteninnenwände ein spiralförmig laufendes Treppenhaus besaßen.
»Das Herz des Berges.«
»Ob du es glaubst oder nicht. Eigentlich ist das nicht mal der ganze Kristall. Der Rest verläuft unterirdisch und versorgt die Stadt.«
»Eine unbegrenzte Energiequelle«
»Nicht ganz, die Stadt und überhaupt alles wird nur durch diesen Kristall versorgt. Daher bleibt, wenn wir die Regenerationsrate nicht überschreiten, nicht viel übrig.«
»Für einen einzelnen», gab Lycon zu bedenken.
»Ja«, gab sie augenrollend zurück. »Dennoch ein Witz im Vergleich zu Avadur.« Die Plattform stieg empor, flog vorbei an den ätherischen Fluxstreifen, die sich immer wieder vom Arkanitkristall absetzten. Die verschiedensten Ebenen, Bibliothek und Waffenkammer, Kornspeicher und Truppenübungsplätze, offenbarten sich. Später sogar die Dachebenen mit ihren Feldern, Wiesen und Geschützen. Die Zitadelle war wie eine eigene Stadt.
»Unglaublich«, begann Lycon. »Ich habe davon gelesen aber es zu sehen, dazu gibt es keinen Vergleich.«
»Im Belagerungsfall ist der Palast komplett zur Eigenversorgung fähig.« Lycon nickte, als ihm durch Karas Worte eine Geschichte der Imperialen Chronik in den Sinn kam …
»Die Provinz Rhiel, deren einzige Funktion in der Versorgung von Tycos, der Hauptstadt des Imperiums, bestand, erkämpfte sich im ersten Zeranischen Krieg ihre Unabhängigkeit. Abseits der Tatsache, dass Rhiel die wohl fähigsten Duellanten ausbildete, verzweifelten die Imperialen auch an der zuerst heimlich erbauten Festung des heutigen Zeron. Rhiel stellte die Lebensmittellieferungen ein, zwang Tycos zum Handeln und hinterließ nur verbrannte Erde. Dies zermürbte die Imperiale Armee. Rhiels Truppen verschanzten sich in der gegen Belagerungen immunen Iridianfeste. Der Sturm auf diese war Tiquaz, dem Zeron von Tycos zu heikel. Eine Niederlage hätte eine Dominanz seitens Rhiel ermöglicht, daher bot er Zugeständnisse. Die gleichberechtigten Stadtstaaten, Rhiel und Tycos, entstanden.«
»Bist du ein Lexikon?« Kara war erschrocken und beeindruckt zugleich.
»Oh, da habe ich wohl laut gedacht. Entschuldige.«
»Ich kenne die Geschichte auch aber so? Lernst du Geschichtsbücher auswendig oder«
»Nein.« Lycon unterbrach sie. »Ich lese jedes einmal und erinnere mich. Nichts weiter.« Die Selbstverständlichkeit, mit der Lycon diesen Umstand ausdrückte machte Kara nachdenklich. Ob es Faszination oder Unbehagen war vermochte sie nicht zu sagen. Wehe, wenn Pa mir nicht sagt, wer er ist.

Sie erreichten die Spitze des Kristalls. Der Turm wurde immer schmaler, erreichte letztlich die Größe der Plattform und endete, als diese mit dem Boden verschmolz. Sie hatten den Thronsaal – oder eher Aussichtsturm mit weitem Balkon – des Zeron erreicht. Bücherregale, Waffenschränke, Vitrinen mit Kristallen; allerlei Raritäten umgaben sie. Über den roter Teppich mit goldenen Ornamenten schritten sie durch den aus hellem Marmor erbauten Saal, der von einem länglichen Mahagoni-Konferenztisch, der mit Schriftrollen vollgepackt war, ausgefüllt wurde.  Auf diesem fiel Lycon ein kleiner Kristall, ein Hologramm Projektor für die Kommunikation, ins Auge. Der Zeron stand am Geländer des Balkons. Sein blutroter Umhang flatterte, genauso das blonde Haar. Sein Blick wanderte von Horizont zu Horizont, prüfte jedes Detail mit einem goldenen Fernrohr. Ob er uns nicht bemerkt hat? Die Windböen rauschten, die Höhe verdünnte die Luft, die Kälte war Lycon fast unangenehm. Kara räusperte sich.
»Vater«, begann sie. Schweigen, einzig der Wind pfiff. Langsam ging Kara auf ihn zu, wollte gerade …
»Ich habe dich schon gehört.« Der Zeron klang ernst.
»Und warum antwortest du mir nicht?« Provokant lehnte Sie sich an das Geländer und lächelte ihn an, doch er reagierte nicht.
»Deswegen.« Er gab ihr das Fernrohr. Karas grinsen verflog. Sie nahm es und blickte hindurch, beäugte die Hügellanden, sah nichts.
»Was soll da draußen sein.« Während Kara planlos den Horizont betrachtete, wandte sich Soric Lycon zu.
»Lycon. Es freut mich, dich endlich real kennenzulernen.«
»Es ist mir eine Ehre hier sein zu dürfen.«
»Ihr kennt euch also persönlich?« Plötzlich ein dumpfer Knall, die Erde bebte. Kara erschrak, ließ das Fernrohr fallen und noch bevor dieses den Boden berührte, stand sie, umringt von einer flammenden Aura, hinter dem Konferenztisch, zog einen Hebel an dessen Unterseite und entfesselte ein Zischen von kurzer Dauer. Helles Surren erklang. Ein kaum zu sehendes Ätherfeld spannte sich über die Stadt. Der orangene Herbsthimmel verfärbte sich rötlich. Ein im Kern schneeweißes Projektil, umflammt von rotem Flux, erhob sich am Horizont, eroberte das Himmelszelt und flog langsam auf Rhiel zu.
»Wird der Schild standhalten?« Verunsichert sah Kara zu Soric.
»Das kommt auf ihre Technik an.« Die berechnenden Worte Lycons verwirrten sie, provozierten eine Frage. Plötzlich ein ohrenbetäubendes Zischen, gefolgt von einem Kanonenschlag. Eine grelle Schneise zerschlug das Projektil, entflammte den Himmel. Schnell drehte Lycon sich um, entging so dem gleißendem Licht, das die Stadt für einen Moment blendete. Die Schockwelle brachte ihn ins Wanken, ließ seinen Mantel aufflattern. Höllischer Lärm übertönte Karas Ruf, ihr Augenlicht kehrte wieder, ließ sie erkennen, was das Inferno freigab. Die Trance der anfänglichen Blendung suggerierte ihr einen Sternenhimmel, doch Lycon durchschaute die Illusion der glühenden Schar. Streuschusstechnik.

Der Zeron behielt die Projektile im Auge, legte die Hand an die Steuerkonsole, wartete den Moment des Einschlages ab.
Jetzt! Der Schild glühte auf. Keine Sekunde später zerbarsten die ersten Lichtkugeln auf dessen Oberfläche. Das Bombardement entfesselte ein Flammenmeer, die Akustik glich einem Trommelfeuer. Seelenruhig betrachte Lycon das Feuerwerk, fühlte sich durch die gelassene und präzise Reaktion des Zeron in guten Händen. Er weiss was er tut.
»Energiereserven kritisch!« Kara erging es anders. Ihr war die Angst, der Mangel an Erfahrung mit Äther-Artilleriewaffen anzusehen. Dass die Pyromanie Acalons jemals einen Vorteil für mich hat … Lycon grinste und genoss das ungewöhnlich lange Farbschauspiel, hatte fast ein wenig Mitleid mit Kara und erschrak, als erste Risse die Energiekuppel zu durchziehen begannen. »Halt es aufrecht!« Der Hagel ging weiter, verunsicherte nun auch Lycon – endete schlagartig.
»Ist es vorbei?«
»Kara«, begann Soric der die in sich langsam zusammenbrechende Kuppel betrachtete. »Es fängt gerade erst an. Die nächste Salve kommt.«
»Dreizehneinhalb Minuten. Verliert keine Zeit.« Der Junge ist wirklich wie eine Maschine. Soric nickte, schritt vorbei an Kara, die Lycon ungläubig ansah, ergriff sein Schwert und nahm Anlauf auf den Balkon.
»Uns bleibt nur der Frontalangriff.« Hemmungslos stürmte er los, sprang über die Brüstung und stürzte sich in die Tiefe.

© Timon Lorenz Thöne

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