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Die Hegemonie des Ostens

TYCOS

Die zweite Kurzgeschichte zu Rhiel ist eine Abhandlung. Sie betrachtet den Fall der Technokratie und schildert die Ausgestaltung der modernen Hegemonie des Ostens.

Wohlstand

Die Pyramide

Ein Gespenst geht um in der Hegemonie – das Gespenst der Korruption. An ihr versagte die Technokratie, obwohl sie die Grundlage für Fortschritt, somit Wohlstand gelegt hatte. Doch viele wollten mehr als bloß ein Rad im Getriebe zu sein. Sie wollten sich profilieren, über anderen stehen, sich selbst verwirklichen. Der Wunsch nach Individualität ging einher mit Gier und Neid, verschlang den Verstand, und brachte die schlimmsten Seiten der Zerer hervor.  Politisch begann es mit der Bestechung und Bedrohung von Beamten, fuhr fort mit der Manipulation von Statistiken, endete in lethalen Fehlentscheidungen – Skandalen, die notfalls durch Morde vertuscht wurden. Aus den gewissenhaften Instituten wurden Auktionshäuser in denen das höchste Gebot gewann. Damit erlangten Individuen und ihre Kollektive die Gewalt über Daten und beeinflussten damit die Entscheidungen des Konzils.

Doch dies war nicht von Dauer. Denn wo einst das Konzil das Monopol war bildeten sich neue Gilden – Interessenzusammenschlüsse innerhalb der industriellen Zweige, die stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren und eine einheitliche Linie ihres Vertreters im Konzil unmöglich machten. Damit wurde das ohnehin in seiner Integrität unterwanderte Konzil zum Schauplatz sinnloser Theater, verfiel in Diskussion und Ohnmacht gegenüber den Gilden, die um die Vorherrschaft in ihrem Sektor konkurrierten. Doch nicht nur darum, denn mit der Abhängigkeit der anderen ließ sich Macht ausüben. So kam es, dass die stärksten Akteure der Wirtschaft Konzerne gründeten, die wettbewerbsunfähige Konkurrenz ausstachen, aufkauften – ihre Macht in den Gilden festigten und diese innerhalb weniger Jahre hierarchisch organisierten und jedwede Reste der Technokratie durch eine plutokratische Oligarchie ersetzten.

Dies war das Ende des ersten Tycos, dass zwar effektiv, dazu aber auch kontrolliert gewachsen war, relativ gleichmäßig verteilten Wohlstand genoss und zugleich visionären, gar Pioniercharakter im Bezug auf die Erkundung und Besiedlung äußerer Gebiete hatte. All dies verging im Machtkampf der Opportunisten, war der unweigerlichen Natur der Zerer geschuldet, deren Disziplin zum Kollektiv durch ihre Sehnsucht nach Freiheit und Individualität gebrochen wurde.  Zwar wird der Technokratie einen hoher Wert für die Anfänge der östlichen Hegemonie beigemessen, doch die dafür nötige Ausgestaltung der Zivilgesellschaft traf auf Ablehnung. Bereitwillig nahmen die Zerer das Elend für die Chance auf unermesslichen Reichtum in Kauf, öffneten sich dem Spiel der Pyramide, dass letztlich nur auf den unteren und mittleren Ebenen funktionierte.

Alle konsumierten bei Wenigen. Viele arbeiteten für Einige, versagten in Ihrer Ambition andere bei sich konsumieren zu lassen und tauschten daher ihre Zeit und Arbeitskraft – ihre Fähigkeiten – für Geld ein mit dem sie ihr Überleben sicherten. Die meisten versuchten erst garnicht einen eigenen Weg zu bestreiten, gingen stattdessen den des geringsten Widerstandes, ließen sich von den Angeboten der Wenigen verlocken und verkauften sich an diese. Wie auch im Wohlfahrtsstaat der Technokratie blieb der Großteil der Bevölkerung bequem, schlief, während eine Minderheit an Möglichkeiten gewann, wachsamer denn je wurde. Denn Innovationen – Wettbewerbsvorteile – wurden zu einer essenziellen, informellen Währung dieser Gesellschaft. Neben der Individualität fanden die Zerer ihre neue Gleichheit in Form dessen, was ihnen allen von Anbeginn an mitgegeben war: Potential. Jeder verfügte über Geist und Verstand, über Fähigkeiten wie Kreativität, konnte Qualität im Tun erreichen. Darauf folgte lediglich die Frage wie dieses Potential Anwendung finden würde. Sicher war lediglich, dass die Anwendung der eigenen Fähigkeiten nicht mehr zum Wohl der Gesamtgesellschaft eingesetzt  werden musste, stattdessen eine freie Entscheidung eröffnet wurde, die umgekehrt die Verantwortung für das Fortkommen des Individuums auf dieses übertrug.

Die meisten gaben die Entscheidung darüber ab, stagnierten, konsumierten, verweilten in Glückseligkeit, sofern die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes gegeben war. Änderte sich dies drohte Armut, gar Tod, denn keiner fing die Schwachen wohlwollend auf. Oft ging der ökonomische Absturz mit einem Verlust an Freiheiten einher, führte, sofern sich keine neue Werkstätte fand, zu einer grausamen Entscheidung. Denn entweder fügte man sich dem System und nahm Schulden auf sich, riskierte vom Zins der Haie in Leibeigenschaft verschleppt zu werden, oder aber man suchte sich einen Weg außerhalb des Systems – öffnete sich der Kriminalität. So kam es, dass verschiedene Schichten, Parallelgesellschaften entstanden. Neben jenen, die sich allein durch die Unterwelt schlugen gab es viele, die sich Kollektiven anschlossen. Ob Gangs, mafiöse Organisationen oder anderer Art: Diese Schicht wird schlicht als Abschaum bezeichnet, hat ihre eigenen Regeln und Gesetze, ganz abhängig davon in wessen Revier man agiert. Oft dezimiert der Abschaum sich gegenseitig, gerät mit den privaten Sicherheitsdiensten der Konzerne aneinander – brachte in seinem Wettbewerb um Leben und Tod viele talentierte, vom Leben geschulte Persönlichkeiten hervor.

Andererseits war es ein mit Blut geöltes Getriebe, was viele abschreckte, in die Arme der Haie trieb. Mit einer guten Ausgangssituation waren es Bankiers, denen man sich unterordnete. Für alle anderen blieben die Konzerne, schlimmstenfalls die Mogule unter dem Abschaum, die oft als Dienstleister für die Konzerne agierten. Sie organisierten die Leibeigenschaft, Zwangsarbeit in den Werften und Stahlmanufakturen, Minen der unkontrolliert rasant wachsenden Metropole, deren Landschaften dem Wunsch des Kapitals – dem Stahl der Infrastruktur – weichen musste. Durch die zunehmende Urbanisierung und Spaltung der Gesellschaft bildeten sich verschiedenen Stadtviertel, deren Bild von dem jeweilig ansässigem Konzern und dessen Methoden geprägt war. Nord und West beherbergte den Stahl, Süd die Werften, Ost die Syncanit-Manufakturen und Forschungszentren. Den Kern bildete die Bürokratie, welche das produzierende und wertschöpfende Gewerbe organisierte, teilte sich das in die Höhe wachsende Viertel mit Banken, Versicherungen, zuletzt den Penthäusern des Finanzadels. Verbunden wurde all dies mit Schienenstrecken, deren Züge Güter und Zerer in verschiedenste Ebenen und Viertel transportierten – ein Netz, dass mit der zunehmenden Komplexität der Stadt wuchs, bald in entlegenste Ebenen führte, von denen selbst die Eisenbahner nicht konkret wussten warum sie existierten. Denn auch der Abschaum schloss sich an dieses System an, dass schon bald Sinnbild für die allumfassende Abhängigkeit der tycanischen Akteure untereinander würde.

Schon zu Zeiten der Technokratie bezog die Metropole Ressource von außerhalb, gründete dazu Kolonien. Erst wurden Anreize für das Aussiedeln gegeben, derweil jedoch löste man das Problem der Überbevölkerung durch Deportation. Meist waren es Zwangsarbeiter, entsandt um den unstillbaren Hunger der Metropole zu stillen. Aus den Kolonien wurden Besatzungszonen, kontrolliert von den Ordnungskräften des jeweiligen Konzerns.  Und wie auch in der Metropole selbst entbrannten Kämpfe um Einflussgebiete – Märkte und Quellen. Denn alle großen Akteure wollten die Ressourcen der Kolonien für sich zu beanspruchen, dem jeweils anderen höchstens gegen Gebühr zugänglich machen – so Macht durch die Abhängigkeit der anderen ausüben. Dies änderte jedoch nichts an den materiellen Notwendigkeiten der Metropole, deren Krise aufgrund der militärisch begründeten Zusatzkosten massiv verschärft wurde. Die Unterfangen wurden unwirtschaftlich, gefährdeten gar die Hegemonie der großen Akteure. Denn auch mittlere und kleinere Akteure traten auf den Plan, genauso der Abschaum. Durch ihre Masse an Aktivitäten wurde die Situation immer undurchsichtiger. Die gegenseitige Schwächung der Großen bot den kleineren Chancen, ließ die Pyramidenspitze revolutionäre Kräfte fürchtete. Bei einer Versammlung des Schattenrat – dem geheimen Konzil der kapitalistischen Eliten – wurde die Schaffung einer Kontrollinstanz vereinbart.

Die Truppen der Großen außerhalb der Metropole wurden als Kapitaleinlage eines Unternehmens angesehen, sicherten – gemäß ihres Umfangs – Anteile an dieser Kontrollgesellschaft. Dieses neue Mega-Militärunternehmen einte die Streitkräfte der Großen, rieb die Konkurrenz auf und bewirtschaftete die Kolonien. Die daraus resultierenden Gewinne wurden gemäß der Kapitaleinlagen der Aktionäre an diese ausschüttetet. Somit war ein Megakonzern geboren, der die Macht aller in den Schatten stellte, jedoch nur durch die Vereinigung der großen Akteure zustande kam. Schon bald würde das Oberkommando dieser Kontrollinstanz den Titel der Regierung für sich beanspruchen und den Konflikt mit ihren Anteilseignern suchen. Genauso würden die Konzerne versuchen die Anteile der jeweils anderen aufzukaufen, was über die Jahrhunderte zu immer neuen Machtverhältnissen führen wird. Was sich jedoch nie groß geändert hat war, dass es letztlich immer Akteure der Spitze waren, welche die Geschicke der Hegemonie des Ostens lenkten. Mit diesem System erreichten sie dauerhaften Wettbewerb, damit Fortschritt, zugleich unermesslichen Wohlstand und eine Ordnung, die ihre Handlungsfähigkeit und Beständigkeit im Rahmen der Pyramide sicherte. Dies zog sich durch die gesamte Pyramide der Gesellschaft, variierte lediglich die auf einem Individuum vereinigte Verantwortung.

Manche steigen hoch, viele fallen Tief. Den Wenigsten gelingt der Aufstieg in die höchsten Sphären. Die meisten lebten im Arbeiterdasein, viele Leibeigenschaft oder dem Abschaum angehörig. Letztlich herrschte erneut das Recht des Stärkeren. Nur das es dieses mal neben der physischen Dimension um die ökonomische und mentale erweitert wurde. Der gnadenlose Wettbewerb der tycanischen Pyramide katapultierte die Technologie massiv nach vorn. Denn oft lebten die Methoden der Technokraten in der Führung der Unternehmen fort. Hinzu kam lediglich eine neue Form, ein neues Verständnis von Wohlstand – eine weit befriedigendere als eine Gesellschaft des Kollektivs diese jemals zu leisten vermochte. Eine, die das Wesen der Zerer derart stimulierte, dass sie die Pervertierung vom Individualismus zum Egoismus nur selten bemerkten. Und wenn sie es doch taten blieb es eine Erkenntnis, die meist an den Mahlsteinen des Systems zerschellte, denn von Gedanken allein wird kein Hunger gestillt.

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